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Zu Tode geliked: Streamer stirbt vor laufender Kamera

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Es ist kaum auszuhalten! Der französische Streamer Jeanpormanove stirbt im zehntägigen Livestream-Marathon. Nicht, weil er plötzlich zusammenbricht – sondern nach systematischen Qualen. Misshandelt von seinen eigenen Mitstreamern, geduldet von der Plattform Kick, angefeuert von jubelnden Fans.
Ein dunkles Gaming-Setup mit einem blutigen Daumen-hoch-Symbol auf einem Stuhl.

Mit lediglich 46 Jahren stirbt Raphaël Graven im Livestream.

Am bitteren Ende dieses Marathons liegt der Mann, der online als Jeanpormanove bekannt war und eigentlich Raphaël Graven hieß, regungslos da. Ein Mitbewohner schleudert ihm noch eine Plastikflasche an den Kopf – eine letzte Erniedrigung, aber er ist bereits tot. Sein Tod markiert das Ende von fast 300 Stunden Livestream: zehn Tage voller Demütigungen, Schläge und psychischer Qualen.

Ex-Obdachloser, Gamer, Opfer

Jean Pormanove

Raphaël Graven, online bekannt als Jean Pormanove, war früher Soldat und zeitweise obdachlos, bevor er ins Gaming und Streaming einstieg. Über verschiedene Kanäle sammelte er mehr als eine Million Follower. Schon bald wurde klar: Immer dann, wenn JP ausrastete, schnellten Klickzahlen und Spenden nach oben.

Mehr Wut bedeutete mehr Zuschauer – und mehr Geld. Seine Mitstreamer erkannten dieses simple Muster sofort und machten daraus ein perfides System. Sie mussten ihn nur provozieren, damit er explodiert. Zuschauer zahlten sogar dafür, ihn live beleidigen zu dürfen. Aus diesem Prinzip wurde eine regelrechte Show der Gewalt: Die sogenannten Freunde schlugen ihn, kippten Farbe über ihn, während die Menge am Bildschirm jubelte.

Mit der Zeit eskalierte diese Spirale ins Unermessliche – und gipfelte in jenem „Marathonstream“, der zwölf Tage lief, bis Raphaëls Tod ihn abrupt beendete. Mein Kollege Tom Wannenmacher fasst es auf Mimikama treffend zusammen: 

„Was als Show begann, wurde zum Geschäftsmodell. Laut STANDARD, BBC, Le Monde und weiteren Quellen bestand das Konzept seiner Mitstreamer – Owen Cenazandotti alias „Naruto“ und Safine Hamadi – darin, ihn unter dem Deckmantel des Entertainments zu quälen. Sie inszenierten „Mock Strangulations“, beschossen ihn mit Paintball-Waffen, hielten ihn tagelang wach und spielten mit seiner psychischen und physischen Belastbarkeit – und das live, mit Spendenfunktion, Kommentarfeld, Applaus.“

Gewalt wird belohnt

Wie lukrativ dieses widerwärtige Konzept war, zeigte sich im letzten Stream: Allein dort flossen mehr als 50.000 Euro an Spenden. Angeblich zahlte Kick zusätzlich bis zu 2.000 Euro pro Stunde. Weil Plattformen wie TikTok und Twitch solche Inhalte blockierten, zogen die Männer von einer Seite zur nächsten – bis sie bei Kick landeten, das offenbar weniger Skrupel hat.

Jean Pormanove wurde in eine perfide Abhängigkeit gedrängt. Man bot ihm Wohnung, Geld und vorgetäuschte Freundschaft – im Gegenzug sollte er das Opfer spielen. Für Reichweite und Anerkennung ließ er fast alles mit sich machen: Beleidigungen, Schläge, Würgeangriffe, Schlafentzug. Sogar seine Medikamente nahm man ihm zeitweise weg.

Dass Kick all das duldete und sich jetzt scheinheilig „tief betroffen“ zeigt, ist blanker Hohn. Die Plattform inszeniert sich als „besseres Twitch“, ist aber längst ein Tummelplatz für Content, der jede Grenze überschreitet.

Die Schuld tragen nicht nur seine Mitstreamer

Natürlich tragen Owen Cenazandotti („Naruto“) und Safine Hamadi die Hauptverantwortung für Raphaëls Tod – aber bei ihnen hört es nicht auf. Auch die Plattform, die jahrelang untätig zusah, trägt Mitschuld. Das ist nicht nur eine Behauptung: Es gibt ein Google-Drive-Archiv mit mehr als 1.700 Videos, das die systematische Gewalt dokumentiert.

Bereits im vergangenen Jahr warnte die Journalistin Marie Turcan vom Investigativportal Mediapart (Paywall) vor den Inhalten. Laut Tagesschau reagierte Kick nicht. Und auch die Zuschauer handelten nicht: Sie feuerten an, spendeten Geld – aber niemand kam auf die Idee, die Polizei zu alarmieren.

Wenn ich über dieses widerwärtige Geschäftsmodell nachdenke, sehe ich mehrere Schuldige: die Täter, die Plattform – und alle, die sich diese Streams begeistert reingezogen haben und das für Unterhaltung hielten. Es ist wie im Stadion: Vielleicht wirft nur einer den Gegenstand aufs Feld oder ruft eine rassistische Beleidigung – aber drumherum sitzen Tausende, die schweigen.

Das Ende vom Lied

Die erste Obduktion ergab, dass Raphaël Graven nicht direkt durch Gewalteinwirkung gestorben ist. Ob eine Vergiftung oder ein medizinischer Notfall vorlag, wird jetzt weiter untersucht. Die Staatsanwaltschaft ermittelt, Frankreichs Digital-Staatssekretärin Clara Chappaz sprach vom „absoluten Horror“.

Nichts davon bringt Raphaël Graven zurück. Was bleibt, sind Plattformen, die mit Gewalt Geld verdienen – und eine Gesellschaft, die so etwas offenbar ohne Aufschrei hinnimmt. Das ist abscheulich. Wollen wir wirklich in einer Welt voller Cybermobbing leben, in der Klicks und Likes mehr zählen als Menschenleben? Sind wir so abgestumpft, so sensationsgeil, so höhnisch?

Mein Appell an dich: Unterstütze so etwas nicht. Melde solche Streams. Und wenn Plattformen wegschauen, geh direkt zu den Behörden. JPs Tod muss ein Weckruf sein – für Regierungen, für Streamingdienste, aber vor allem für uns alle. Wir dürfen nicht zulassen, dass Empathie, Integrität, Respekt und menschliches Leben weniger wert sein sollen als Klicks, Likes und miese Geschäftsmodelle.

Noch ein Satz zum Schluss: Es gibt unzählige Videos, Bilder und Dokumente, die belegen, was der Mann erdulden musste. Ich hab hier nichts davon gezeigt und nichts verlinkt. Aus JP wurde ein Opfer gemacht, eine Witzfigur. Das muss ein Ende haben, daher habe ich darauf verzichtet, diesen Zirkus posthum weiterzuführen.

Bildquellen

  • Jean Pormanove: JeanPormanove auf X
  • Forscher warnen vor WhatsApp und TikTok: Millionen Jugendliche betroffen: inside digital mit Material von Meta & TikTok
  • Jeanpormanove: KI-generiert

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