Der EU-Vorschlag, bekannt geworden als „Chatkontrolle“, würde eventuell dazu beitragen, Kindern zu helfen. Lobenswert, wie jeder Versuch, Kinder vor den Schrecken sexuellen Missbrauchs zu schützen. So, wie von der EU geplant, könnte aber gleichzeitig auch eine beispiellose Überwachungsinfrastruktur entstehen. Eine, die viel zu tief in die private Kommunikation vieler Millionen EU-Bürger eingreift.
Was als Schutzschild für Kinder verkauft wird, könnte sich als Brecheisen gegen unsere Grundrechte erweisen. Und nein – das ist keine Übertreibung. Selbst der juristische Dienst des EU-Rats (PDF) und der UN-Hochkommissar für Menschenrechte (PDF) halten die Pläne für rechtswidrig. Warum der EU-Rat, der am 14. Oktober über das Gesetz abstimmt, besonders vorsichtig sein sollte, erkläre ich dir jetzt und hier.
Privatsphäre, die endet, bevor sie beginnt
Offiziell versichert die EU-Kommission, dass Ende-zu-Ende-Verschlüsselung unangetastet bleibe. Doch Kritiker nennen das einen „durchsichtigen Taschenspielertrick“. Denn statt verschlüsselte Nachrichten zu knacken, sollen sie vorher gescannt werden – direkt auf deinem Gerät, bevor du sie abschickst. Diese Technik nennt sich „Client-Side-Scanning“.
Das ist, als würde der Staat jeden Brief lesen, bevor du den Umschlag zuklebst. Das digitale Briefgeheimnis – Fundament unserer Privatsphäre – wäre damit de facto Geschichte. Oder, wie Signal-Chefin Meredith Whittaker sagt:
„Man kann keine Hintertür schaffen, auf die nur die Guten Zugriff haben.„
Millionen Fehlalarme: Wenn der Algorithmus dein Urlaubsfoto verdächtigt
Was technisch klingt, hat reale Folgen: Die Erkennungssysteme irren sich häufig. Der Bundesdatenschutzbeauftragte warnt vor Fehlerraten von bis zu zwölf Prozent. Bei Milliarden Nachrichten täglich bedeutet das Millionen Fehlalarme – jeden Tag.
Dein Urlaubsfoto könnte plötzlich als verdächtig gelten. Ein Vater, der einem Arzt ein Bild seines Kindes schickt, landet womöglich auf einer Prüfliste. Während unschuldige Nutzer mit Sperren kämpfen, versinken Ermittlungsbehörden in Datenmüll. Ergebnis: Mehr Bürokratie, weniger echter Kinderschutz.
Und das Absurde? Die wirklich Schuldigen werden sich kaum fangen lassen – sie umgehen längst Messenger und nutzen abgeschottete Netzwerke.
Die Büchse der Pandora: Wenn Überwachung erst einmal existiert
Die Chatkontrolle ist nicht nur fehleranfällig – sie wäre ein Dammbruch. Denn sobald die technische Infrastruktur zur Massenüberwachung existiert, lässt sie sich leicht ausweiten. Heute geht’s offiziell um Missbrauchsdarstellungen, morgen um Terrorismus, übermorgen um Urheberrecht oder politische Inhalte.
Damit entsteht ein Werkzeugkasten für Machtmissbrauch – geboren aus guten Absichten, aber brandgefährlich in falschen Händen. Besonders kritisch ist das für Berufsgruppen, die Vertraulichkeit brauchen: Anwält:innen, Ärzt:innen, Journalist:innen. Wenn Quellenschutz oder Arztgeheimnis fallen, wankt das Fundament der Demokratie.
Auch wirtschaftlich wäre das ein Schuss ins eigene Knie: Europäische Firmen warnen, die Chatkontrolle würde Vertrauen zerstören und kleine Anbieter ruinieren. Wer nutzt schon einen Messenger, wenn jeder Chat gescannt werden kann? Dienste wie Signal oder Threema würden so praktisch entkernt.
„Wer das digitale Briefgeheimnis mit Chatkontrolle und Vorratsdatenspeicherung aufweicht, gefährdet unsere liberale Demokratie“, warnt auch die FDP-Generalsekretärin Nicole Büttner.
Eine seltene Allianz: Alle gegen die Chatkontrolle
Bemerkenswert ist, wie breit der Widerstand ist. Von Netzaktivist:innen über Tech-Konzerne bis hin zu Kinderschutzorganisationen – quer durch Europa ist man sich einig: So nicht.
Signal, Threema und WhatsApp drohen, den EU-Markt zu verlassen.
Der Chaos Computer Club, Reporter ohne Grenzen und die Gesellschaft für Freiheitsrechte warnen vor „Überwachung ohne Beispiel“.
Datenschutzbehörden in ganz Europa – darunter der BfDI und der Europäische Datenschutzausschuss – nennen den Entwurf „unverhältnismäßig und grundrechtswidrig“.
Sogar manche Kinderschützer:innen schlagen Alarm: Millionen Fehlalarme helfen keinem Kind, sie blockieren Ressourcen. Eine Koalition also, die von links bis rechts reicht – und genau das sollte Brüssel zu denken geben.
Deutschland als Zünglein an der Waage
Ob die Chatkontrolle wirklich kommt? Das liegt vor allem auch an Deutschland. Bisher hat sich die Bundesregierung enthalten. Doch am 14. Oktober steht die Entscheidung an. Innen- und Justizministerium halten sich bedeckt. Aus der Union kommt jetzt klare Ablehnung. CDU-Politiker und -Fraktions-Boss Jens Spahn sagte am 7. Oktober in einer Pressekonferenz:
„Wir als CDU/CSU-Bundestagsfraktion sind gegen die anlasslose Kontrolle von Chats. Das wäre so, als würde man vorsorglich mal alle Briefe öffnen und schauen, ob da etwas Verbotenes drin ist. Das geht nicht, das wird es mit uns nicht geben.“
Fazit: Eine gefährliche Illusion von Sicherheit
Es ist doch sonnenklar: Selbstverständlich müssen wir Kinder besser schützen – ganz sicher auch im Internet. Aber bitte nicht um jeden Preis! Die Chatkontrolle verdeutlicht, wie aus einem berechtigten Anliegen ein gefährlicher Irrtum entstehen kann. Oder anders: „Gut gemeint“ und „gut gemacht“ sind grundverschiedene Dinge.
Ein System, das unsere Chats scannt, bevor wir sie überhaupt abgeschickt haben, ist alles andere als ein Schutzschild. Es ist ein Angriff auf unsere Privatsphäre, auf Verschlüsselung, auf Vertrauen – und damit auf Freiheit. Die Chatkontrolle steht nicht für Sicherheit, sondern nur für eine gefährliche Illusion davon. Vielleicht sollten wir uns also weniger fragen, wie viel Sicherheit wir gewinnen, sondern wie viel Freiheit wir bereit sind zu verlieren.