Vom Kohle- zum Datenstrom: Gelingt so der Strukturwandel?

9 Minuten
Kann die abstrakte Digitalisierung einen Wirtschaftszweig ersetzen, der für einen Großteil des Wohlstands unseres Landes verantwortlich ist, aber keine Zukunft mehr hat? Wir schauen uns das große Thema Strukturwandel an – direkt vor unserer Haustüre.
Braunkohle-Tagebau Garzweiler mit Windrädern im Hintergrund
RWE steigt acht Jahre früher aus der Kohle aus und das ist der GrundBildquelle: herbert2512/Pixabay

Strukturwandel! Das Buzzword aus dem 20. Jahrhundert bleibt uns auch im 21. Jahrhundert treu – insbesondere in den kommenden zwei bis drei Jahrzehnten. Der Kohleausstieg und die damit verbundene Umwidmung der Wirtschaft und Gesellschaft ist eine regional bedeutsame Herausforderung, die nicht nur in Wahlkämpfen gerne hervorgekramt wird, sondern in den betreffenden Regionen real ist – und längst läuft.

Als Medienpartner der Veranstaltungsreihe „Digitale Woche Rhein-Erft“ blicken wir genauer auf eine Region, auf die das zutrifft. Und die liegt nur wenige Kilometer von unserem Verlagssitz entfernt: Das rheinische Braunkohlerevier, das zu Teilen in eben jenem Rhein-Erft-Kreis liegt. Einige der betreffenden Orte haben unter anderem durch die Aktionen rund um den Hambacher Forst oder die Tagebau-Anlagen Garzweiler im Neusser Rhein-Kreis Bekanntheit erlangt. Jetzt gilt es nach vorne zu blicken. Was ist hier möglich, wenn die Kohleindustrie weicht?

Digitaler Hotspot statt kalte Kohle

Die Zukunft ist digital. So abgedroschen diese Phrase klingen mag – für die Herausforderungen des Strukturwandels kann man sie durchaus anbringen. Und so gibt es Bemühungen, im Rhein-Erft-Kreis Firmen aus der Digital-Branche anzuziehen, logisch zu verknüpfen und so einen Pull-Effekt für weitere moderne Unternehmen zu erzeugen. Nun mag man jetzt denken: Das kann doch jeder. Einfach die große Schatulle öffnen und Firmen durch Entgegenkommen und Anreize zu locken versuchen. Der Ansatz im Rhein-Sieg-Kreis ist jedoch ein anderer. Hier wird das Bestreben proaktiv in Verbindung mit der aktuellen Industrie-Prägung versehen.

Auch in Zusammenarbeit mit dem DE-CIX, Betreiber eines der weltweit größten Internet-Knotenpunkte in Frankfurt am Main betreibt, soll auch im Rhein-Erft-Kreis ein solcher Knotenpunkt angedacht werden. Die Region liegt mitten in der sogenannten „Blauen Banane“. Eine Dezentralisierung solcher Knotenpunkte wird angestrebt. Neben weiteren in Amsterdam, Düsseldorf sowie im Ruhrgebiet soll ein etwaiger „Hyperscaler“ (erweiterbares Server/Rechenzentrum) im Rhein-Erft-Kreis die Internet-Last verteilen – und regional die wirtschaftliche Lücke schließen, die der Kohleausstieg hinterlässt.

Was ist der Plan?

Durch die Ansiedlung eines großen Rechenzentrums mit angeschlossenem Datendrehkreuz soll im ehemaligen Braunkohlerevier ein Digitalpark mit vielseitigen Unternehmen aus der Tech-Branche inklusive Forschung und Entwicklung entstehen. Datenspeicherung (Rechenzentrum), Datenverteilung (Drehkreuz) und Datennutzung (Digitalpark) in einem. Ein „Innovation Valley Rheinland“, wie es NRW-Minister Pinkwart in Anlehnung an das Silicon Valley plakativ nennt.

Die Wirtschaftsförderung Rhein-Erft zieht ein Projekt aus Bad Vilbel bei Frankfurt a.M., das Spring Park Valley, als beispielgebende Idee für einen solchen Digitalpark zu Rate.

Simulationsbild des Spring Park Valley bei Frankfurt
So könnte ein Digitalpark aussehen, wie er in der Region Rhein-Erft angedacht ist. Hier das Beispiel des Spring Park Valley in Bad Vilbel.

Warum genau hier?

Der Anknüpfungspunkt an die Tagebau-Begebenheiten ist dabei technischer Natur. Einerseits sind Gewerbefläche in Nachbarschaft zu den riesigen Kohle-Löchern frei und schnell zu erschließen. Das Ambiente wird durch angestrebte Renaturierungsmaßnahmen zudem mittel- und langfristig attraktiver. Soviel zu eher weichen Fakten. Harte Fakten liegen in der Stromproduktion selbst begründet. Trassen, Hochvolt-Anlagen, bereits liegende sowie einfach zu installierende Infrastruktrur ist nötig. Und an diesen Stellen durch die vorangegangene Industrie bereits vorhanden.

Des Weiteren, so führt es insbesondere DE-CIX-Chef Harald Summa aus, liegt das Revier auch an einer Gabelung von Glasfaser-Trassen auf den Wegstrecken Frankfurt-Stockholm und Amsterdam-Frankfurt, einem Daten-Drehkreuz, das ein wichtiger Faktor für die Ansiedlung ist.

Weitere weiche Faktoren sind, so Summa, auch durch die Bildungsinstitute im Radius von 250 Kilometern gegeben, wozu mehrere Universitäten, teilweise mit technischer Spezialisierung gehören. Zu nennen sind etwa die RWTH Aachen neben den Unis aus Köln, Bonn und Düsseldorf. Außerdem Firmen wie die Deutsche Telekom, und viele Unternehmen und Institute im benachbarten Ausland.

Neben Strom- und Daten-Trassen als harte Faktoren ist also auch für das bedarfsgerechte Umfeld und in diesem besonderen Fall auch für die geografische Einordnung gesorgt. Das Vorhaben, ein Data-Center im Rhein-Erft-Kreis anzusiedeln und zu etablieren ist so vielversprechend wie gewagt.

Hyperscaler als Strukturwandel-Motor: Das sind die Chancen

Experten rechnen damit, dass nach der Ansiedlung eines solchen Data-Centers nach Vorlage des DE-CIX Unternehmen, Fachkräfte und Projekte dieses neue Umfeld nutzen werden, um Forschung und Entwicklung voranzutreiben. Hier steckt eine Menge Geld hinter, durch die die Chancen beziffert werden. Bis zu 2 Milliarden Euro Investitions-Volumen allein durch die Anziehungskraft des Hyperscaler-Ökosystems seien hier möglich.

Rechenzentrum als Beschleuniger, nicht als Ersatz

Das Rechenzentrum selbst ist also nicht der neue Haupt-Arbeitgeber, sondern das direkte Umfeld, das sich in der unmittelbaren fachlichen und geographischen Umgebung des Zentrums bildet. Viele kleine statt ein großer Arbeitgeber. Synergien unter den Unternehmen zeigen weitere Möglichkeiten auf. Ein Idealbeispiel für positive Wechselwirkungen.

DE-CIX-Chef Harald Summa nimmt das Ergebnis einer Machbarkeitsstudie (siehe unten) vorweg: „Die Region liegt geografisch ideal zwischen zwei wichtigen ‚Welt-Internetknoten‘. Hier haben viele mittelständische Unternehmen von Weltrang ihren Sitz, die im Zuge der digitalen Transformation immer stärker Dateninfrastrukturen nachfragen. Die Stromversorgung ist exzellent, um entsprechende Infrastrukturen zu betreiben. Hier sind die Voraussetzungen und Potenziale zur Ansiedlung eines Hyperscale-Rechenzentrums mit Datendrehkreuz und angeschlossenem Digitalpark gegeben.“

Selbst beim Corona-Peak konnten die bisher bestehenden Infrastrukturen zwar Rekorde, aber keinen Kollaps verzeichnen. Warum also etwas ändern, wenn die Struktur grundsätzlich doch gut funktioniert? Für eine regionalere Rechenzentrums-Versorgung sprechen insbesondere die Möglichkeiten der neueren Technologien. Damit etwa 5G-Mobilfunk seine wirkliche Stärke – die niedrige Latenz – auch richtig ausspielen kann, sind dezentrale Strukturen sinnvoll.

DE-CIX Patchpanel Server am Internetknotenpunkt in Frankfurt
Einblicke in den größten Internet-Knotenpunkt der Welt. Der DE-CIX in Frankfurt a.M.

Gehen wir einen Schritt weiter, zum autonomen Verkehr, wird das greifbar. Für autonomes Fahren sind Experten zufolge Datenraten von einem bis 5 Gigabit pro Sekunde und pro Fahrzeug nötig. Bei zentralisierten Infrastrukturen erreicht hier sogar die Lichtgeschwindigkeit ihre Grenzen. Im Artikel zur 5G-Netztechnik stellen wir die Herausforderungen anschaulich dar. Wenn ein Datensatz von Berlin nach Frankfurt zur Verarbeitung muss, ist die Zielsetzung einer Latenzzeit von einer Millisekunde schon nicht mehr erreichbar. Bei internationalen Wegen liegen wir somit deutlich darüber. Lokal kritische Anwendungen wie eben Verkehrssteuerung aber auch medizinische Anwendungen sind nur mit minimalen – und somit regional strukturierten Datenströmen denkbar.

Risiken und Herausforderungen des digitalen Strukturwandels

Die digitale Transformation klingt – wie beschrieben – nach einem sicheren Versprechen. Zumal es als sicher gilt, dass der Bedarf an Datenressourcen und -verbrauch steigt. Leuchtturm-Projekte sind gefragt, denn wie nicht nur ITler längst wissen: „Die Cloud“ gibt es nicht – es gibt nur sehr große Computer, die woanders stehen. Salopp gesagt.

Eine Wette auf die Zukunft

Bei allen Wachstumschancen stellen sich jedoch Fragen. Die Nachbar-Knotenpunkte – etwa der bereits bestehende Ruhr-CIX – erleben derzeit eine eher überschaubare Nachfrage. Es bedarf also einiger Überzeugungsarbeit bei verschiedenen Netzwerkern – national wie international – um ein solches Vorhaben wirklich nachhaltig profitabel umzusetzen. Es gibt also keine Erfolgsgarantie. Wenn es aber eine Art Paradigmenwechsel hin zu dezentral organisierten Datenströmen gibt, dann kann das Vorhaben, das im Projektstadium als „#Revier2030“ bezeichnet wird, durchaus gelingen.

Gesellschaft

Die gesellschaftliche Herausforderung liegt indes darin, diese Umwidmung von Kohlestrom zu Datenstrom auch wirklich, ganzheitlich und nachhaltig zu leben. Eine Region, die Jahrzehnte lang durch Kohleabbau geprägt und hierdurch ein gewisses Standing erlangt hat, wird nicht per Formel und durch Zuzug zum deutschen Silicon Valley. Es geht bei diesem weichen, aber keinesfalls zu vernachlässigenden Faktor nicht um gutes Marketing nach innen und außen, sondern vor allem um Teilhabe und Einbeziehung der Menschen und Strukturen vor Ort.

Klimaschutz

Grundsätzlich sollte bei einem Strukturwandel ausgehend von einer „dreckigen“ Industrie wie der Kohle auch die Ursache für die Notwendigkeit nicht außer Acht gelassen werden: Klima- und Umweltschutz. Nun scheint es ein leichtes, aus einem tiefen Tagebauloch ein umweltfreundliches Äquivalent zu gestalten. Mehr Daten und mehr Datenverbrauch bedeuten aber auch einen höheren Bedarf an Strom. Das ist in den politischen Plänen zur gesamten Klimaneutralität grundsätzlich berücksichtigt, muss aber in der Realität stets mit bedacht sein. In Hessen – am großen DE-CIX – fordern die Grünen beispielsweise schon eine genauere Betrachtung von Rechenzentren hinsichtlich deren Nachhaltigkeitspotenziale.

Machbarkeit: Was sagen Politik, Wirtschaft, Experten?

Die Landesregierung in NRW war für das Vorhaben eines Hyperscaler-Ökosystems im ehemaligen Braunkohle-Revier nicht schwer zu begeistern. Wirtschaftsminister Andreas Pinkwart (FDP) stellte im April 2021 eine Machbarkeitsstudie vor, auf deren Basis die DE-CIX Group AG das Vorhaben mit konzipiert. Die wichtigsten drei Parameter, auf die hier überprüft wurde, sind: Strom, Glasfaser, Bedarf.

Neben einem Rechenzentrum und dem zugehörigen Datendrehkreuz wird hier auch ein Digital-Park für die Ansiedlung entsprechender Partner-Unternehmen und -Institutionen mitgedacht. Insgesamt kommen in der fraglichen Region drei Standorte hierfür in Frage – Rommerskirchen, Dormagen, Bergheim. Allesamt eher kleine Städtchen in den „Speckgürteln“ von Köln beziehungsweise Düsseldorf, die vom digitalen Strukturwandel besonders profitieren würden.

In der Machbarkeitsstudie ist von einer „Jahrhundertchance“ die Rede. Das Ergebnis fassen die Autoren äußerst positiv zusammen. Unter Berücksichtigung der Zielsetzung jedoch auch erwartbar. Es lautet wie folgt: „Das Rheinische Revier hat das vollumfängliche Potenzial, um die drei Dateninfrastruktur-Komponenten zu etablieren. Wichtig ist dabei die folgende Feststellung: Eine offene Datendrehkreuzgestaltung unterstützt insbesondere die regionalen Entwicklungen bei der weiteren Ausgestaltung der vorhandenen wie geplanten Förderprojekte und weiterer regionale Initiativen.“

Das Datacenter, das den Pull-Effekt erzeugen soll, ist dabei keinesfalls der neue Haupt-Arbeitgeber. Die Studienmacher gehen von rund 50 Arbeitsplätzen aus, die in diesem Hyperscaler entstehen. Für den Hauruck-Effekt sorgt der angedachte Digitalpark, der über 2.000 weitere Arbeitsplätze schaffen soll – Grenzen sind hier aber keine gesetzt. In der Studie ist dies wie folgt formuliert: „Neue Arbeitsplätze würden in einem großen Umfang nicht im Rechenzentrum selbst, sondern vor allem in den Branchen und Unternehmen geschaffen, die mit dem Rechenzentrum verbunden wären.“

Begriffserklärung

In diesem Artikel gibt es auch einiges an Fachchinesisch aus der Netzwerker- und Wirtschaftssprache. Hier kommen einige Erklärungen:

DE-CIX: Internet-Knoten in Frankfurt am Main und gemessen am Datendurchsatz einer der größten der Welt. Die DE-CIX Group AG betreibt zudem auch weitere Knotenpunkte in Deutschland und in weiteren Ländern.

„Blaue Banane“: Wirtschaftszone in geschwungener Form und dicht besiedelter Raum in Zentraleuropa. Gedachter Schwung von Mailand über die Schweiz, Südwest- und Westdeutschland (Rhein-Necker, Rhein-Main, Rhein-Ruhr), Paris/Amsterdam/Brüssel, bis nach London. Insgesamt von rund 110 Millionen Menschen bevölkert.

Datacenter/Hyperscaler: Synonym genutzte Wörter für ein erweiterbares Rechenzentrum mit Anschluss an große Datendrehkreuze und -Trassen. Grundlage für einen Internet-Knotenpunkt à la DE-CIX.

Pull-Effekt: Bezeichnung einer Wechselwirkung, bei der durch Ansiedlung eines Unternehmens weitere Unternehmen angezogen werden.

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3 KOMMENTARE

  1. Nutzerbild Heiner Mühller

    Genau mein Humor. Man will unsere bisherige Garanten für sicheren Strom und unseren Wohlstand durch Digitale Knotenpunkte und derlei Spielereien ersetzen. Scheinbar vergisst man einfach das man die gekappten Energiemengen irgendwie beibringen muss, insbesondere nach einem massiven Anstieg der E Mobilität. Dazu trägt dann ein solches Stromintensives Datennetzwerk erstmal nichts bei. Vermutlich werden da noch einigen die Augen geöffnet, denn man munkelt ja schon das es zu Stromrationierungen kommen könnte. Das wird ein Fest, ein Fest des Untergangs für dieses überhebliche Nichts zustande bringendes Europa. An vorderster Front die Gutmenschen der Weltheiler Deutschlands.

    Die Lächerlichkeit wird immer Monströser.

    Umso schneller wir alle Kraftwerke abschalten, umso schneller merkt es auch der letzte Kostverächter auf welchem Holzweg wir uns befinden.

    Total Irre diese Irren aus der Irrenanstalt 😀

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  2. Nutzerbild Äwody

    Schließe ich mit dir an Heiner!

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  3. Nutzerbild Henrike Mühl

    Heiner, guter Punkt, alles Irre hier

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